Persönlichkeiten in unserer Nachbarschaft

von: Barbara Bobbert

Eine prächtige Eiche weist mir den Weg in Breitscheid – Nord. Der Baum gilt als Sinnbild für Standhaftigkeit und Stärke, Eigenschaften, die auch zu Frau Neuroth passen, auf deren Grundstück diese Eiche steht. Wenn sie begeistert wie begeisternd aus ihrem Leben erzählt, energetisch mit wohlgesetzten Worten, mag man nicht glauben, dass sie vier schwere Hüftoperationen mit unsägliche Schmerzen hinter sich hat und seit 1992 mit chronischer Schmerzproblematik leben muss. Mit unerschöpflicher Energie hat sie, allen Schicksalsschlägen zum Trotz, immer wieder neue Herausforderungen gesucht und gemeistert.

Gebürtig in Brühl kristallisierte sich schon in der Schule ihr Talent und Interesse für Sprachen heraus: Latein, Französisch, Englisch. Im Rahmen ihres Studiums der Romanistik lernte sie Spanisch, arbeitete als Sekretärin des belgischen Botschafters in Bonn. Die Liebe verschlug sie nach Essen. Für ihre drei Kinder legte Frau Neuroth überzeugt eine Berufspause ein. 1969 baute die Familie in Breitscheid ein Haus, damit die Kinder im Grünen aufwachsen konnten. Um ihre Sprachkenntnisse nicht zu verlieren, besuchte sie die VHS. In den Gymnasien wurden Sprachlehrer in den 70ger Jahren händeringend gesucht und als sie gefragt wurde, ob sie Französisch am Theodor-Heuss-Gymnasium in Ratingen unterrichten wolle, nahm sie die Herausforderung an.
25 Jahre unterrichtete sie dort. Nach drei Jahren Unterricht hieß es allerdings, man könne sie nur weiter beschäftigen, wenn sie ein Vollstudium in Sprachen und Erziehungswissenschaften nachweisen könne. Das war 1975. Die Kinder waren 11, 13 und 15 Jahre alt, der Ehemann ganztägig beruflich eingespannt. Sie entschied sich für das Studium, neben Unterricht und familiären Pflichten. Mit 46 Jahren hatte sie ihr Staatsexamen in der Tasche.

Wo bleibt da noch Raum für soziales Engagement? „Mir geht es so gut, mir hat der liebe Gott so viel gegeben, ich möchte davon etwas abgeben“, sagte Frau Neuroth und fand dazu reichlich Gelegenheit. „Ach Du meine Güte“, reagierte die Umwelt entsetzt, als sie einem jungen schwarzen Flüchtling aus Togo kurz entschlossen das Haus für die Wochen ihrer Urlaubszeit als Bleibe anbot. Noch heute verbindet sie eine Freundschaft mit dem Mann, der in Deutschland eine neue Heimat fand. Es war nicht der einzige Flüchtling, dem sie in der Zeit von 1984 – 2000 mit Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit helfen konnte. Frau Neuroth ging auf die Fremden zu. Vorurteile gegenüber Volksgruppen interessieren sie nicht. „Jeder Mensch hat das Bedürfnis, angenommen und akzeptiert zu werden,“ sagt sie. Besonders die Kinder lagen ihr am Herzen. In Breitscheid initiierte sie eine Hausaufgabenbetreuung für die Kinder am Sondert und eine Kleiderkammer im Roten Turm. Um die Räume musste sie lange kämpfen. Nicht nur Pfarrer Goethe, auch viele Frauen in der Nachbarschaft unterstützten sie tatkräftig und regelmäßig. Frau Neuroth nutzte ihre Kontakte zu Kirchen und Behörden und suchte und vermittelte Wohnungen, organisierte Umzüge und Möblierungen. Sie sorgte dafür, dass Flüchtlingskinder an den Ferienfreizeiten teilnehmen konnten. Sie organisierte eine Nähgruppe für die Frauen im Lager. Sie sammelte Spenden. Weihnachten wurde jeder Flüchtling mit einem kleinen Geschenk bedacht. Zeitweise lebten 200 Menschen in dem Lager!
„Ich habe so viel zurück bekommen“, sagte sie bewegt und zeigte mir die Fotos der Taufe ihres Patenkindes Mary. Die tamilischen Eltern baten die Eheleute Neuroth, Paten ihrer Tochter zu werden. Selbstredend fand das Fest in tamilischer Tradition mit ca. 30 Personen spontan nach dem Gottesdienst im Hause Neuroth statt. Aus Begegnungen wurden Freundschaften fürs Leben. Doch es gab auch Wermutstropfen. Ein Jahr vor dem Hauptschulabschluss wurde ein begabtes Roma-Mädchen nach Mazedonien ausgewiesen. Sie hatte neun Jahre in Deutschland gelebt. Mazedonisch konnte sie nicht. Sie erfuhr Ablehnung und Diskriminierung und wollte zurück nach Deutschland. Sie schrieb verzweifelte Briefe. Frau Neuroth konnte ihr nicht mehr helfen. Sie machte zusätzlich die bittere Erfahrung, dass sich korrupte Beamte in Mazedonien an ihren Geld – und Sachspenden über Gebühr selbst bereicherten. 1994, frisch in Pension, entdeckt sie bei einem Urlaub auf Lanzarote für sich ein neues Betätigungsfeld.

Sie liest mit Begeisterung den Roman „Mararia“ von Rafael Arozarena und den Hinweis: Nicht in deutscher Sprache erhältlich. Der Roman wird aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt – von Frau Neuroth. Der Zufall – es ergibt sich bei einem Friseurbesuch – beschert ihr den Kontakt zu einem Verleger, der sie aufgrund ihrer ausgefeilten Sprachkompetenz sofort unter Vertrag nimmt. Wo andere den wohlverdienten Ruhestand genießen und sich ihren Ekelkindern widmen – Frau Neuroth ist immerhin sechsfache stolze Oma – setzt sie sich nun mit dem PC auseinander („Es gab Tränen, wenn der Text mal wieder weg war …“). Es bleibt nicht beim Übersetzen. Sie engagiert
sich fortan, die hoch angesiedelte Literatur der Kanarischen Inseln auf den deutschen
Markt zu lancieren. Es folgen Lesungen z. B. in Aachen, Berlin und Hösel. Sie pflegt Kontakte zur Universität in La Laguna auf Teneriffa, der zentralen Anlaufstelle kanarischer Schriftsteller. Auf Anfrage des damaligen Direktors der Universität schreibt sie unter dem Aspekt des Atlantizismus Artikel in einem Internetforum der kanarischen Sprachakademie. Den Autor Rafael Arozarena lernt sie persönlich kennen. Sie bekommt nicht nur die Generallizenz für die Übersetzung seiner Werke, darüber hinaus verbindet sie bis zu seinem Tode eine enge Freundschaft. 2010 erscheint ihre Anthologie der kanarischen Literatur im Wagenbach Verlag.
Hut ab vor dieser Frau! Bedauerlicher Weise ist ihr Ehemann und wichtigste Stütze vor einem Jahr gestorben. Auch die Hüfte meldet sich mehr, als ihr lieb ist. Sie muss nun etwas „kürzer treten“. Aber aufgeben? „Niemals“, sagt sie entschieden.

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